Es ist schon nicht einfach, die Contenance zu behalten, wenn in Social-Media-Kanälen Mist verzapft wird. Besonders schlimm ist aber, wenn echte Journalisten sich das Recherchieren sparen oder aber über das reichweitenstarke Sprachrohr ihres Brötchengebers Halbwahrheiten in eigener Sache verbreiten. Jüngstes Beispiel: Computer-BILD Text-Chef Martin Seigel. Auch wenn er es nicht erwähnt: Er ist natürlich selbst Motorradfahrer und verkündet als solcher in einem Meinungsbeitrag in sieben Minuten das Ende der Freiheit – auf www.welt.de.

Ende der Freiheit zu Lärmen

Die Freiheit, um die es hier geht, ist die Freiheit andere Menschen akustisch zu schikanieren – an Gesundheit, Geist und Vermögen. In der Meinungsspalte der Zeitung lässt der Autor vom Stapel: Der Bundesrat wolle „das Motorradfahren am Wochenende eingeschränkt verbieten“. Mit dieser nahezu uneingeschränkt falschen Formulierung verbiegt er, dass der Bundesrat die Möglichkeit eröffnen will, dass Hotspot-Strecken in Einzelfällen und wenn alles andere versagt hat, auch aus Lärmschutzgründen befriedet werden – was bisher nicht möglich ist. Bisher müssen erst genug der Seigel’schen Freiheitsfreund*innen im Unterfahrschutz der Leitplanke ihr Leben lassen, um Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Sperrungen zu ermöglichen. Auch das (die Toten) ist bedauerlich – wird aber erstaunlicherweise als unvermeidlich hingenommen. So ist halt Freiheit!

Tagesgeschäft von Diktaturen

Aber ein fünftelwahres Geschribsel gemixt mit Scheisshausparolen, die sonst nur aus den demokratiefeindlichen Schmuddel-Ecken der AFD oder der Querdenker zu hören sind („Freiheiten einfach ganz abzuschaffen, gehört zum Tagesgeschäft in Diktaturen“) aktiviert natürlich die Massen der „anständigen“ Motorradgemeinde. Tausendfach wehren sie sich dann lautstark in Innenstädten, um (im Wortsinne) zu demonstrieren, dass Motorräder in den letzten 20 Jahren immer lauter geworden sind. Das sind sie wirklich, dank vieler Betrügereien von Herstellern und Zubehörindustrie (und nicht zuletzt dringend gewünscht von den Fahrern). Unreglementiert und unsanktioniert das Ganze – Scheuer sei Dank! Aber es sind ja nur ein paar schwarze Schafe, die Seigel als Bösewicht*innen identifiziert und nicht 30 Prozent, wie beispielsweise in Baden-Württemberg das Verkehrsministerium langzeitgemessen hat.

Sozialverträglich ist möglich – aber nicht gewollt

Wer sich an einen Hotspot stellt, wird neben viel bösem Lärm-Stumpfsinn auch erleben, dass Motorradfahren ohne das Schikanieren von Menschen technisch möglich ist – und deshalb nicht pauschal verboten werden muss. Nur das Schikanieren mit Maschinen, die teils überhaupt nicht mehr sozialverträglich bewegt werden können, muss verboten werden. Selbst beim Ausfahren aus der Garage weckt eine BMW S1000 RR das ganze Viertel. Wie übrigens auch die tollen Poser mit ihren Mercedes AMG.

Biker sind vulnerable Gruppe

So viel, so seltsam. Aber auf Folgendes muss man auch als BILD-Journalist erst mal kommen: In diesem an Plattheiten reichen Statement werden die Motorradfahrer in die „vulnerablen Gruppen“ eingeordnet, die von islamistischen Halbirren umgefahren und von „Wutbürgern“ durch Öl-Lachen ins Schleudern und in den Tod getrieben werden. Beides ist in der Tat einmal vorgekommen und ohne Frage verurteilenswert – dürfte aber nicht ansatzweise geeignet sein, die Statistik der Raserunfälle auf zwei Rädern zu verdrehen oder die Verantwortung für die Todeszahlen anderen in die Schuhe zu scheiben. Bei Rasanzunfällen ist die Unfallursache statistisch einwandfrei geklärt; sie liegt in der testosterongesteuerten Gashand der „vulnerablen Gruppe“ selbst und nicht beim Dschihad.

Knieschleifend die Linke zum Gruß

Außerdem erfährt man auf Welt.de auch noch, dass Motorradfahrer besonders aufmerksame und mustergültig rechtskonforme Zeitgenossen sind, die im Gegensatz zu Autofahrern nicht ständig WhatsApp-Nachrichten beim Fahren eintippen. Vielleicht ist Herr Seigel entgangen, was man auf jeder Motorrad-Strecke Tag für Tag beobachten kann: Es geht um den Bikergruß – besonders gern bei Schräglage in der Kurve oder beim Überholen mit 120 km/h. Auch der Normalkradler nimmt dabei (in den nicht seltenen Fällen der Begegnung mit einem Artgenossen) die linke Hand vom Lenker, formt mit den Fingern ein V (für Vulnerabel), schaut seinem entgegenkommenden Motorradkumpel in rasender Fahrt tief in die Augen und demonstriert, wie cool verletzliche Gruppen auch in physikalisch unstabilen Zuständen stabile Freundschaften pflegen – auch wenn der Tod nah ist.

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Letzte Kommentare
  1. Ladendiebstahl und Unfallflucht sollen auf FDP-Wunsch Ordnungswidrigkeiten werden. Bei der Denkweise werden Rasen und Lärmen eher noch staatlich subventioniert.

  2. In Sachen Umweltschäden werden ja inzwischen weltweit gegen deutsche Unternehmen mit hohen Schadensersatzforderungen gerichtliche Verfahren nah dem Verursacherprinzip geführt. Vielleicht…

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